Zitat: >... Autorität ist keine Eigenschaft, die jemand "hat" in dem Sinn, wie er Besitz oder körperliche Eigenschaften hat. Autorität bezieht sich auf eine zwischenmenschliche Beziehung, bei der der eine den anderen als ihm überlegen betrachtet. Aber es besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen einer Überlegenheits-Unterlegenheits-Beziehung, die man als rationale Autoritätsbeziehung bezeichen, und einer, die man als hemmende Autoritätsbeziehung beschreiben kann. Ein Beispiel soll zeigen, was ich damit meine. Die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler und die zwischen Sklavenbesitzer und Sklave gründen sich beide auf die Überlegenheit des einen über den anderen. Das Interesse von Lehrer und Schüler geht in gleicher Richtung. Der Lehrer ist zufrieden, wenn es ihm gelingt, seinen Schüler zu fördern; gelingt es ihm nicht, dann ist er genauso gescheitert wie der Schüler. Dagegen möchte der Sklavenhalter den Sklaven nach Möglichkeit ausbeuten; je mehr er aus ihm herausholt, um so befriedigter ist er. Gleichzeitig versucht der Sklave seine Ansprüche auf ein Minimum an Glück zu verteidigen. Diese Interessen laufen zweifellos einander zuwider, da der Vorteil des einen der Nachteil des anderen ist. In beiden Fällen hat die Überlegenheit des einen Partners eine unterschiedliche Funktion: Im ersten Fall ist sie die Vorbedingung dafür, dass der der Autorität unterworfene Person geholfen werden kann; im zweiten Fall ist sie die Vorbedingung für deren Ausbeutung.
Auch die Dynamik der Autorität ist in beiden Fällen eine andere: Je mehr der Schüler lernt, um so schmaler wird die Kluft zwischen ihm und seinem Lehrer. Er wird dem Lehrer immer ähnlicher. Mit anderen Worten, die Autoritätsbeziehung zeigt die Tendenz, sich aufzulösen. Dient dagegen die Überlegenheit der Ausbeutung, wird der Abstand auf die Dauer immer größer.
Die psychologische Situation ist in beiden Autoritätssituationen unterschiedlich. In der ersten sind Liebe, Bewunderung und Dankbarkeit die vorherrschenden Elemente. Die Autoritätsperson ist gleichzeitig ein Vorbild, mit dem man das eigene Selbst ganz oder teilweise identifizieren möchte. Im zweiten Fall entsteht Ressentiment und Feindseligkeit gegen den Ausbeuter, da die Unterordnung unter ihn den eigenen Interessen zuwiderläuft. Aber oft würde - wie im Fall des Sklaven - der Hass nur zu Konflikten führen, unter denen der Sklave zu leiden hätte, ohne eine Chance zu haben zu siegen. Daher wird er gewöhnlich eher dazu neigen, seine Hassgefühle zu verdrängen und wird sie gelegentlich sogar durch ein Gefühl blinder Bewunderung ersetzen. Dieses hat zweierlei Funktionen: Erstens beseitigt es das schmerzliche und gefährliche Hassgefühl, und zweitens mildert sich das Gefühl der Demütigung. Wenn der, der mich beherrscht, ein so prachtvoller und vollkommener Mensch ist, dann brauche ich mich nicht zu schämen, wenn ihm gehorche. Ich kann ihm ja doch niemals gleichkommen, weil er so viel stärker, klüger und besser ist als ich. Bei dieser den anderen hemmenden Art der Autorität wird daher der Hass oder die irrationale Bewunderung und Überschätzung der Autoritätsperson sich ständig vergrößern. Ein rationales Autoritätsverhältnis wird dagegen im gleichen Verhältnis abgebaut, wie der der Autorität Unterworfene selbst stärker und daher der Autoritätsperson ähnlicher wird.
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Die Einstellung des autoritären Charakters zum Leben, seine gesamte Weltanschauung wird von seinen emotionalen Strebungen bestimmt. Der autoritäre Charakter hat eine Vorliebe für Lebensbedingungen, welche die menschliche Freiheit einschränken, er liebt es, sich dem Schicksal zu unterwerfen. Was er unter "Schicksal" versteht, hängt von seiner gesellschaftlichen Stellung ab. Das "Schicksal" eines Soldaten ist der Wille oder die Laune seines Vorgesetzten, dem er sich mit Freuden unterordnet. Für den kleinen Geschäftsmann ist Schicksal gleichbedeutend mit den ökonomischen Gesetzen. Wirtschaftskrisen und Prosperität sind für ihn keine gesellschaftlichen Phänomene, die durch menschliche Aktivität geändert werden können, sondern Ausdruck des Willens einer höheren Macht, der man sich zu unterwerfen hat. Für die an der Spitze der Pyramide ist die Situation im Grunde nicht anders. Der Unterschied liegt nur in der Größe und Reichweite der Macht, der man sich unterwirft, und nicht im Abhängigkeitsgefühl als solchem.
... - für den autoritären Charakter ist es stets eine höhere Macht außerhalb des einzelnen Menschen, der sich nur jeder unterwerfen kann. Der autoritäre Charakter verehrt die Vergangenheit...<
(Aus: "Der autoritäre Charakter" im "Erich-Fromm-Lesebuch", herausgegeben von Rainer Funk oder "Den Menschen verstehen - Psychoanalyse und Ethik" von Erich Fromm)
Die glücklichen Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit.
Marie von Ebner-Eschenbach