Satiren copyright Jon

Sonntag, 25. Dezember 2005

Lovestory für Zeitlose

A verliebt sich auf einer Party in B.
Doch B liebt noch C, obwohl B von C wegen D verlassen wurde.
E ist schon lange hinter A her, kann aber aufgrund von Plattfüßen nicht bei A landen.
F baut einen schweren Unfall und wacht im Krankenhaus auf, in dem G F pflegt.
F ist seit Jahren mit H verheiratet, aber es kriselt in der Ehe, da H homosexuell geworden ist und nun mit I eine Liaison angefangen hat.
B lernt J kennen, aber es kommt nur zu einem verhängnisvollen One-Night-Stand, bei dem sich B mit einer gefährlichen Krankheit ansteckt, der asiatischen Ohrenschmalzverpfropfung, die B fast taub werden lässt.
J, seit langem scharf auf K, verfolgt K auf der Straße und überhört, wegen der asiatischen Ohrenschmalzverpfropfung einen LKW, der von L gesteuert wird und kommt ins selbe Krankenzimmer wie F.
L verzweifelt so sehr an der vermeintlichen Schuld, dass L mit einem Mofa Amok fährt, wobei L unerkannt M, N, O und P tötet, die gerade gemeinsam aus einem Swingerclub kommen.
Q, mit L verlobt, erträgt die Schmach nicht und schießt auf L, doch L überlebt und liegt nun mit F und J im Krankenhaus, wobei die Kommunikation unter den Patienten etwas schwierig ist, da F nicht mehr sprechen kann, J nichts hört und L vollkommen blind ist.
R erfindet im Labor von S ein Serum gegen die asiatische Ohrenschmalzverpfropfung, doch T stiehlt ihm die Unterlagen.
S bemerkt den Betrug, kann aber nichts dagegen unternehmen, da T von dem heimlichen Verhältnis zwischen S und U weiß, und beide damit in der Hand hat.
V, mit S seit Jahren verheiratet, gehört die Firma und W, von U sexuell abhängig ist krankhaft eifersüchtig.
S setzt X auf den Fall an, doch X verstrickt sich in eine heiße Affäre mit Z.
Z verliebt sich auf einer Tupper-Party in A.
Doch A liebt noch immer B.
B ist aufgrund der asiatischen Ohrenschmalzverpfropfung mittlerweile nur noch ein Schatten seiner selbst, doch A will B retten.
A macht sich über Z an X heran und erfährt, dass T das Serum gegen diese heimtückische asiatische Ohrenschmalzverpfropfung gestohlen hat.
A bringt E dazu, bei T einzubrechen um das Serum zu stehlen.
Doch als E ins Haus von T eindringt liegt T´s Leiche im Badezimmer.
S konnte W´s Eifersucht dazu ausnutzen T zu ermorden.
E durchsucht T´s Haus, findet aber das Serum nicht, weil R es an sich genommen hat.
R irrt verzweifelt durch die dunklen Straßen der Großstadt, auf der Suche nach seiner großen Liebe I.
I beendet die homoerotische Beziehung zu H.
H kehrt zu F zurück, während I nach R sucht.
B´s Zustand verschlechtert sich und B muss ins Krankenhaus.
Dort leiden inzwischen nicht nur alle Patienten, sondern auch alle Angestellten an der asiatischen Ohrenschmalzverpfropfung.
C und D werden von I angefahren.
I bringt beide ins verseuchte Hospital.
R irrt noch immer durch die dunklen Straßen der Großstadt.
Da sieht R I´s Auto an sich vorbeifahren und läuft bis zur Klinik hinterher.
An der Rezeption fragt R nach I, bekommt jedoch von der mittlerweile stocktauben Krankenschwester keine Auskunft.
R irrt durchs Krankenhaus und erkennt mit Schrecken, dass es vollkommen mit der heimtückischen asiatischen Ohrenschmalzverpfropfung verseucht ist.
R wankt ins nächste Labor und braut in Windeseile zehn Liter seines Serums.
E bemerkt, dass er von A nur dazu benutzt wurde B zu retten und beschließt, sich endlich seine Plattfüße operativ korrigieren zu lassen.
Auf dem Krankenhausflur stoßen R und E zusammen, aber R kann in letzter Sekunde noch dreieinviertel Liter des lebensrettenden Serums retten, auf den Zentiliter genau die Menge, um alle von der heimtückischen asiatischen Ohrenschmalzverpfropfung heilen zu können.
R stürmt ins Krankenzimmer mit den schlimmsten Fällen und injiziert mit Hilfe von E allen Patienten das Serum.
Wieder auf dem Gang trifft R I und beide beschließen sich nie mehr zu trennen, sondern die Menschheit zu retten.
B, durch das schnellwirkende Serum von der heimtückischen asiatischen Ohrenschmalzverpfropfung befreit, erkennt mit unglaublichem Ohrensausen, dass A die wahre große Liebe ist und beide verlassen lachend die Klinik.
R hat inzwischen allen von seinem Serum gespritzt, da überfällt R schlagartig absolute Taubheit, die sich von den Ohren bis in den ganzen Körper ausbreitet.
Im letzten Augenblick drückt R die Spritze mit dem allerletzten Tröpfchen Serum I in den Arm und drückt den Kolben herunter.
Dann stirbt R in den Armen von I. © 2005 Jon

Dienstag, 20. Dezember 2005

Paradise Now

Kokosschnaps war wieder da.
Eines Morgens saß er am Strand, als wäre er nie fort gewesen.
Sicher, ein wenig verändert hatte er sich schon, er war nicht nur um einiges dünner geworden, seine Haut nicht nur um einiges heller, nein, Kokosschnaps trug an seinem Körper Zeichen seiner mehr als dreijährigen Abwesenheit, Spuren einer anderen Kultur, die er voller Stolz den herbei eilenden Inselbewohnern von Palm Eiland präsentierte.
So schlotterten um seine Knie nicht nur ausgefranste Hosenbeine, so trug er nicht nur auf dem Kopf einen breitkrempigen Strohhut und ein ausgebleichtes T-Shirt mit dem Aufdruck „Paradise Now“ quer über der mageren Brust, sondern zu all dem Bestaunenswerten steckten seine Füße in etwas, das die Eingeborenen sofort mit „Zweibaum“ titulierten, der kultivierte Kokosschnaps aber fremdländisch als „Schuhe“ bezeichnete.
Den Stammesangehörigen blieb der geringschätzige Blick ihres verloren geglaubten Sohnes hinter einer riesigen dunklen Sonnenbrille verborgen, so dass sie arglos waren und Kokosschnaps sogleich wieder in ihrer Mitte aufnahmen und seine Rückkehr abends mit Palmwein, Kokoslikör und einem Spanferkelbraten feiern wollten.
Und am Abend dann, die Sonne war längst untergegangen, sämtliche Frauen und Mädchen der kleinen Insel hatten sich zur Wiedersehensfeier prächtig heraus geputzt, alle Männer und Jungen ihren schönsten Kriegsschmuck angelegt, erzählte Kokosschnaps immer und immer wieder jedem, der ihn fragte und nach dem Genuss des köstlichen Fleisches und einer gehörigen Menge geistiger Getränke, auch jedem der ihn nicht fragte, wie es denn nun damals gekommen war, dass er, Kokosschnaps verschwunden und nun endlich wieder daheim auf Palm Eiland angelangt sei, nach all den Jahren, wobei doch alle gedacht hätten, dass ihn der Ungeheuerliche Hai mitsamt Einbaum verschlungen habe, damals vor drei Jahren, als er, Kokosschnaps, wie jeden Morgen in sein schmales Boot gesprungen und mit den anderen Männern zu den Korallenriffen gepaddelt war, um dort zu fischen.
„Nun,“ sagte Kokosschnaps, mit fortschreitend schwerer Zunge, „nun, es war so: Ich fuhr hinaus auf See, die Mittagssonne stach im Nacken und ein leichter Schwindel überkam mich. Da legte ich mich hin und deckte mich mit einigen Palmblättern zu, die ich, um den Fisch frisch zu halten immer dabei habe, wenn ich zum Fischen fahre. Kaum ruhte ich, schlief ich ein, doch ich hörte den Wind meinen Einbaum ergreifen und spürte, wie ich fortgetrieben wurde. Aber meine Müdigkeit war zu stark und so konnte ich nichts dagegen tun, als unter den Palmblättern zu hoffen, dass ich bald an Land geweht werden würde.“
Diese plötzliche Müdigkeit zur Mittagszeit kannten alle Männer sehr gut und so nickten sie zustimmend und lobten Kokosschnaps´ Besonnenheit, sich mit den Blättern Schatten verschafft zu haben.
„Als ich aufwachte, stellte ich fest, dass rings um mich kein Land mehr zu sehen war. Palm Eiland schien im Meer versunken zu sein.“
An dieser Stelle der Erzählung rückte Kokosschnaps seine Sonnenbrille zurecht, die er noch immer trug, obwohl es bis auf die Lagerfeuer stockdunkel war und seine jeweiligen Zuhörer honorierten diesen kleinen dramatischen Kunstgriff mit einem schwermütigen „Oh, je.“
„Ja, Palm Eiland war nicht mehr zu sehen und ich war hungrig und durstig. So warf ich mein Netz aus, trank das Wasser, das sich unter den Palmblättern gebildet hatte, als ich schlief und aß dann meinen kleinen Fang roh. So überstand ich den ersten Tag.“
Wieder lobten ihn die erfahreneren Fischer für seine Geschicklichkeit, erläuterten bei dieser Gelegenheit den jungen Männern die Einzelheiten des Überlebenskampfes in den verschiedensten gefährlichen Situationen und füllten die hohle Kokosnuss des mittlerweile nicht mehr ganz so erzählfreudigen Heimkehrers mit dessen Lieblingsgetränk, dem kraftspendenden Kokosschnaps.
„Am nächsten Morgen kam erneut ein kräftiger Wind auf, der mein Boot packte und vor sich her trieb. So landete ich noch am späten Abend auf einer Insel, die so groß ist, dass man mehrere Wochen bräuchte, sie auch nur ein einziges Mal zu umschiffen.“
Wieder rückte Kokosschnaps seine Sonnenbrille zurecht und nickte schweigend.
Auch seine Zuhörer nickten, denn auch sie hatten nun eine Ahnung davon, wie groß und voller Abenteuer die Welt sein konnte.
So leerte Kokosschnaps seine Trinknuss mit einem Zug, schwankte noch einige Male bedenklich mit Kopf und Oberkörper vor und zurück und kippte schließlich ohne einen weiteren Laut von sich zu geben, kopfüber in den weichen Sand.
„Erschöpfung,“ bemerkte Häuptling Sebastiano nur und alle erhoben sich nickend, um Kokosschnaps in seine alte Hütte im Dorf zu tragen und ihn dort auf weichen Blättern niederzulegen.

Jetzt, da ganz Palm Eiland berauscht von der großen Wiedersehensfeier für den verloren geglaubten Kokosschnaps in süßem Schlaf liegt, sei hier verraten, dass der Heimgekehrte mit seiner abenteuerlichen Geschichte nicht unbedingt gelogen, aber doch einen entscheidenden Faktor unterschlagen hat:
Während alle Männer große Kürbisflaschen voll frischen Wassers mit an Bord ihrer Einbäume genommen hatten, waren seine mit Kokosschnaps, den er am liebsten trank bis zum Rand gefüllt und er hatte davon so kräftig Gebrauch gemacht, dass ihn nicht nur die zugegebenermaßen heiße Sonne, sondern auch die geistige Fülle seines Getränkes niedergestreckt und anständig betäubt hatte.

„Klar, darfst du mal fühlen,“ sagte Kokosschnaps zu der schönen jungen Frau, die den Stoff des verblichenen T-Shirts berühren wollte, „aber nur, wenn du mich küsst.“
Die junge Frau lachte, gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und betastete dann das weiche Gewebe des fadenscheinigen Hemdes.
„Wie weich das ist,“ stellte sie anerkennend fest, „und wie schön.“
„Wenn du heute Abend zu mir in die Hütte kommst, darfst du es sogar mal anziehen,“ versprach Kokosschnaps.
Sie errötete und schüttelte den Kopf: „Ich bin doch mit deinem Bruder verheiratet.“
„Da, wo es diese Kleidung gibt, ist es üblich, dass die Frauen der Brüder einmal in der Woche zu ihren Schwagern in die Hütte gehen.“
Sie lief lachend fort und rief: „Da vielleicht, aber nicht auf Palm Eiland, du hohle Nuss.“
„Das Hemd wird heute Abend an meinem Kopfende liegen und auf dich warten,“ rief Kokosschnaps ihr hinterher und ging langsam zu den Männern, die auf einem schmalen Strandstreifen saßen und ihre Netze auf Risse und Löcher untersuchten.
„Olla, mein Sohn,“ wurde er von allen begrüßt, denn die Menschen von Palm Eiland sind nicht nur freundlich zueinander, sondern allesamt miteinander verwandt.
„Olla, meine Brüder,“ erwiderte Kokosschnaps den Gruß, denn die Menschen von Palm Eiland betonen gern ihre Verwandschaft bei jeder sich bietenden Gelegenheit.
„Bist du wieder munter?“ erkundigte sich Sebastiano, der Häuptling besorgt.
„Klar, ich könnte Palmen pflücken,“ behauptete Kokosschnaps, obwohl er ziemlich heftige Kopfschmerzen hatte und ihm reichlich flau im Bauch war.
„Dann hilf uns doch, die Netze zu flicken. Oder hast du das etwa verlernt?“
Die Männer lachten, denn welcher Palm Eiländer würde so etwas jemals verlernen?
„Vergessen hab ich das bestimmt nicht, denn welcher Palm Eiländer würde so etwas jemals verlernen?“ antwortete Kokosschnaps lachend und schob seinen Strohhut in den Nacken.
„Aber mit dem Netzeflicken allein ist es ja nicht getan.“
Die Männer nickten, denn da hatte er recht. Die Einbäume waren auch noch zu untersuchen.
„Das könntet ihr alles einfacher haben,“ deutete Kokosschnaps mit einem Griff an seine Sonnenbrille an und grinste.
„Was meinst du denn?“ fragte Sebastiano, eher aus Freundlichkeit, als aus Interesse.
„Nun, jeder von euch fährt ganz allein mit einem kleinen Boot und einem kleinen Netz aufs Meer.“
„Das ist schon immer so gewesen.“
„Und schon immer fahrt ihr jeden Tag hinaus und kommt mit was wieder nach Hause?“
„Na mit Fischen natürlich. Was für´ne Frage.“ Diesmal lachten die Männer aus vollem Halse und fragten sich kopfschüttelnd, ob Kokosschnaps auch wirklich schon ganz erholt wäre, oder unter einer geheimnisvollen Krankheit leide, die er sich in der Fremde zugezogen haben könnte.
„Mit Fischen für einen Tag. Deshalb müsst ihr auch schon am nächsten Morgen wieder hinaus auf See.“
„So ist das eben auf Palm Eiland. Und so war das auch schon immer.“
„Und so wird es auch immer sein, wenn ihr nicht auf mich hört. Denn ich kenne die Lösung für diese Frage und sie ist ganz einfach.“
Die Männer unterbrachen ihre Arbeit und sahen einander an.
Dann nickten sie: „Er hat recht. Jeden Morgen müssen wir hinaus auf See für so´n paar Fische. Und wenn das so weitergeht, dann bis in alle Ewigkeit, so lange es Palm Eiland geben wird. Und jeden Morgen müssen wir vorher die Netze flicken, die Einbäume in Ordnung bringen und kommen erst spät am Abend erschöpft heim zu unseren Frauen, die wir so sehr lieben.“
„Seht ihr, man muss wie ich nur einmal ein wenig von der Welt gesehen haben und schon kann man alle Probleme im Handumdrehen lösen.“
„Denn,“ Kokosschnaps hockte sich nieder, „mit meinem Wissen werdet ihr bald alle bei euren Frauen bleiben können und es mit ihnen sehr angenehm haben.“
„Und der Fisch?“ fragte einer.
„Und Fisch werdet ihr so reichlich fangen, dass ihr ihn bald satt habt.“
Die Männer nickten und schüttelten abwechselnd den Kopf.
„Und du glaubst, dass das wirklich gelingt?“ fragte Sebastiano.
„So wahr ich hier stehe und drei Jahre auf der Großen Insel gelebt habe,“ behauptete Kokosschnaps ohne mit der Wimper zu zucken, was man ohnehin nicht sehen konnte, weil er wie immer seine riesige Sonnenbrille trug.
„Solltet ihr allerdings meinem Plan folgen wollen, kann ich euch dabei nur insofern helfen, dass ich euch erkläre, wie´s geht und ihr mir dafür von eurem Fang etwas abgebt.“
Die Fischer von Palm Eiland steckten ihre Köpfe zueinander und besprachen die Angelegenheit ausgiebig.
„Nun, einverstanden?“
„Einverstanden,“ antwortete Sebastiano und sie besiegelten den Vertrag, indem sie sich umarmten und auf die Schultern klopften.

Wie die wohlwollende Leserin und der geneigte Leser mit Sicherheit ahnen, hat auch diesmal der weitgereiste Kokosschnaps der spröden Wahrheit ein paar kleine Flügel verliehen, sich sozusagen dichterischer Freiheit bedient, um seinen geliebten Stammesgenossen von Palm Eiland und auch ein klein bisschen sich selbst zu mehr Lebensfreude zu verhelfen, denn wie jeder weiß, ist es um die Begeisterung für die Wahrheit besser bestellt, wenn sie uns nicht einfach nackt und schlicht begegnet, sondern geschminkt, frisiert, wohlriechend und fantasievoll geschmückt, den Appetit auf das Segensreichere erregt, von dem uns bislang nicht einmal ein Hauch in unserem alltäglichen Einerlei dämmerte.
So ist Kokosschnaps zwar tatsächlich auf der Großen Insel gestrandet, hat aber, anders als seinen großen Worten zu entnehmen, nichts weiter als den heruntergekommenen Hafen kennengelernt und alles, was an Gutem und Schlechtem dazu gehört. Dort hat er, angestellt in einem Schnapsausschank mit eigener Brennerei, genug über die Welt gehört, um sich nun auf eigene Füße zu stellen.

„Zuerst einmal brauchen wir einen großen Vorrat an Kokosnüssen,“ erklärte Kokosschnaps den Männern und Frauen auf dem Thron sitzend, den er sich von Häuptling Sebastiano geliehen hatte.
„Legt sie alle auf einen Stapel vor meiner Hütte.“
Der ganze Stamm half mit. Selbst die kleinsten Kinder sah man mit Kokosnüssen in der Hand hin und her laufen und allmählich wuchs der Kokosnusshaufen zu einem wahren Berg heran.
„Das reicht erst einmal für heute,“ verkündete Kokosschnaps, rückte mit einem Griff seine riesige Sonnenbrille zurecht und schob seinen Strohhut in den Nacken.
„Jetzt habt ihr frei.“ Mit diesen Worten zog er sich in seine Hütte zurück und ward bis zum späten Abend nicht mehr gesehen.
Am nächsten Nachmittag standen bereits zehn bis fünfzehn große Kürbisflaschen vor seiner Hütte, angefüllt mit dem besten Kokosschnaps, der je auf Palm Eiland gebrannt worden war, wie alle Männer, die davon kosteten, einhellig feststellten.
„Wirklich hervorragend,“ lobte auch Sebastiano Kokosschnaps´ Selbstgebrannten, sich die Lippen leckend und klopfte ihm auf die Schulter.
„Aber nun waren wir schon zwei Tage hintereinander nicht zum Fischen auf dem Meer und wir können ja nicht ausschließlich von Früchten leben.“
„Mach dir mal da keine Sorgen, lieber Häuptling. Wir brauchen für die harte Arbeit, die jetzt auf uns zukommt ein wenig Treibstoff, damit uns nicht der Spaß daran vergeht.“
Das Vergnügen der Männer, die dem Kokosschnaps schon ausgiebig zugesprochen hatten, beschränkte sich augenscheinlich auf einige wenige Aktivitäten; so erbrachen sich einige da, wo sie gerade standen, andere lagen gekrümmt auf dem Dorfplatz, während die Kinder die nachäfften, die torkelnd oder auf allen Vieren kriechend versuchten, in ihre Hütten zu gelangen.
„Na, heute wird es wohl auch nichts mehr mit dem Fischen,“ stellte Kokosschnaps fest, „dann werde ich mich jetzt mal um die Frauen kümmern.“
Doch auch Sebastiano hörte ihn nicht mehr, sondern lag vor seinem Thron auf dem Boden und schnarchte den majestätischen Schlaf des Stammesführers.

Während sich also Kokosschnaps anschickt, auch den weiblichen Stammesmitgliedern die Segnungen der Zivilisation näher zu bringen, muss erwähnt werden, dass er in den drei Jahren seines Exils nicht nur im Verkauf diverser Spirituosen tätig gewesen war, sondern auch kräftig beim Brennen verschiedenster gehaltvoller Getränke ausgeholfen hatte, so dass er nun, wie der Zustand seiner Stammesbrüder nach seinem Experiment mit heimischen Früchten beweist, darin eine gewisse Meisterschaft erreicht hatte, die er, denn man sollte kein Talent ungenutzt lassen, auf Palm Eiland weiter entwickeln wollte.
Doch schauen wir einmal, wie Kokosschnaps es anstellt, auch den Frauen seines Stammes ein wenig Kultur zu bringen und begleiten wir ihn nun zum Frauenhaus, in dem alle Frauen sich tagsüber versammeln, um dort gemeinsam zu kochen und die neuesten Nachrichten untereinander auszutauschen.

„Olla, Frauen, kommt heraus und hört mir zu,“ rief Kokosschnaps, breitbeinig vor der länglichen Hütte der Frauen stehend.
„Was willst du?“ fragte Orchidea, als Frau des mächtigen Häuptlings Sebastiano Sprecherin der Frauen.
„Euch das Leben versüßen.“
Allein mit diesen spärlichen Worten vermochte es Kokosschnaps sämtliche Frauen auf den Platz vor der Hütte zu locken, denn auch die Menschen von Palm Eiland sind wie alle Menschen versessen auf Süßes jeglicher Art und was könnte denn noch schöner als ein süßes Leben sein? Na also.
„Hört mir zu ihr Blumen von Palm Eiland, ihr Orchideen im sanften Wind des Ozeans. Weit bin ich gereist, habe allen Gefahren getrotzt, Meeresungeheuern in hartem Kampf standgehalten, Hunger und Durst überstanden, um euch nun beistehen zu können in eurer Not.“
Beim Klang dieser poetischen Worte wurde es selbst den ältesten Frauen flau im Bauch und sie hingen gespannt an den aufgesprungenen Lippen des gewandten Redners.
„Was ich auf der Großen Insel sah, waren anmutige Frauen, doch nicht halb so anmutig wie ihr, denn nur die Frauen von Palm Eiland sind schöner in ihrer Farbenpracht noch als die allerschönsten Fische der Meere, nur die Frauen von Palm Eiland sprechen noch so lieblich wie der sanfte Wind, der uns an einem heißen Tag so herrlich erfrischt, nur ihr seid noch so köstlich süß und schmackhaft, wie die köstlichsten Bananen, wenn ihr am Abend oder in der Nacht zu uns Männern in die Hütte kommt und uns die süße Frucht der Liebe kosten lasst.“
Die jungen Frauen kicherten und wurden rot, doch die erfahreneren nickten und lächelten schwärmerisch.
„Diese anmutigen Damen der Großen Insel, sie können euch keinesfalls die Kokosmilch reichen, sind Frauen wie ihr und dennoch führen sie nicht ein halb so beschwerliches Leben wie ihr, mit all eurer Plackerei.“
Die Frauen sahen auf.
„Seht euch nur eure Hände an: Sind sie nicht rau vom Pflücken der Früchte? Betrachtet eure Rücken: Sind sie nicht schon krumm vom Schleppen der schweren Töpfe? Eure Augen: Sind sie nicht schon getrübt vom Weben der groben Kleidung in der Dunkelheit? Fühlt die Sohlen eurer Füße: Sind sie nicht hart und schrundig, weil ihr auch auf den schärfsten Klippen noch nach den winzigsten Vogeleiern sucht?“
Und die Frauen betasteten ihre Füße, die das bedeutsamste Schönheitsmerkmal auf Palm Eiland sind und stellten zum ersten Mal in ihrem Leben fest, dass diese tatsächlich rau, hart und schrundig waren und sie schämten sich sehr.
„Hol mir deinen Stuhl,“ sagte Kokosschnaps zu Orchidea, „ich will euch etwas zeigen.“
Kokosschnaps setzte sich hin, rückte seine Sonnenbrille zurecht und schob seinen Strohhut in den Nacken. Dann beugte er sich vor, streifte seine ausgelatschten Schuhe ab und streckte seine Füße aus:
„Jetzt fühlt mal.“
Die Frauen schüttelten den Kopf; die Füße eines erwachsenen Mannes zu berühren war nur schicklich, wenn man mit ihm verheiratet war.
„Keine Angst, eure Männer sind beschäftigt und werden nichts davon erfahren,“ versprach Kokosschnaps.
Die Frauen tuschelten miteinander und kamen zu dem Schluss, wenn doch jede die riesigen und schmutzigen Füße von Kokosschnaps berühren würde, bestünde tatsächlich kaum die Gefahr, dass die Männer von deren Verfehlung erführen.
Vorsichtig näherten sich die Frauen Kokosschnaps und eine nach der anderen betastete, knetete und streichelte dessen Füße.
Kokosschnaps kicherte, bis die letzte sich davon überzeugt hatte, dass er zwar nicht die saubersten und wohlriechendsten, wohl aber die weichsten, glattesten und kitzligsten Füße von ganz Palm Eiland hatte.
„Seht ihr? Und die Füße der anmutigen Damen auf der Großen Insel waren noch weicher und schöner als meine, das könnt ihr mir glauben.“
Die Frauen nickten und schüttelten abwechselnd ihre Köpfe.
„Nun, mein lieber Kokosschnaps, was können wir tun, auch solch schöne Füße zu bekommen, damit uns unsere Männer noch mehr lieben?“
„Das, meine Lieben, ist gar nicht so schwer. Jedes Mal, wenn eure Männer die süße Frucht der Liebe mit euch kosten wollen, verlangt ihr von ihnen ein Liebespfand.“
„Ein Liebespfand?“
„Ja, ein Geschenk der Liebe. Einen leckeren Fisch, eine besonders große Kokosnuss, eine Koralle, einen Haifischzahn, alles, was euch an Wertvollem einfällt.“
„Und dadurch werden unsere Füße weicher?“
„Nein, aber ihr gebt mir all diese Geschenke und ich werde euch auch solche Zweibäume, wie ihr sie nennt besorgen. Dann werdet ihr die schönsten Füße der Welt haben und eure Männer werden euch dafür umso mehr lieben.“
Die Frauen von Palm Eiland steckten ihre Köpfe zueinander und besprachen die Angelegenheit ausgiebig.
„Nun, einverstanden?“
„Einverstanden,“ antwortete Orchidea und sie besiegelten den Vertrag, indem sie sich umarmten und auf die Schultern klopften.

Als Kokosschnaps den Frauen von Palm Eiland von den anmutigen Damen der Großen Insel erzählt, hat er damit noch nicht einmal gelogen, sondern nur ein wenig außer acht gelassen, dass diese in dem heruntergekommenen Hafen auf der Großen Insel äußerst selten als solche bezeichnet wurden. Allerdings hatten sie wirklich sehr weiche und sehr schöne Füße, denn sie wurden je nach Gunst von den Männern, die mit ihnen die süße Frucht der Liebe kosten wollten, reichlich beschenkt und hatten demzufolge nicht nur ein Paar „Zweibäume“ zur Verfügung, sondern sehr viele.
Wenn also Kokosschnaps dieses den Frauen von Palm Eiland verschweigt, dann doch nur, weil er sie nicht mit etwas verwirren will, das sie nicht kennen und nicht verstehen können.
Woran man sieht, wie sorgsam er darauf achtet, seinem Stamm nur das Beste zukommen zu lassen, zum allgemeinen Nutzen der Stammesgemeinschaft.

Einige Wochen später hatte sich Palm Eiland zu einer wahren Perle der Südsee entwickelt; in einigen der neuen Hütten, die die Männer für Kokosschnaps gebaut hatten, stapelten sich die bis zum Rand gefüllten Kürbisflaschen, in den übrigen die Liebespfänder der Frauen.
Kokosschnaps ging von einer Schnapsbrennerei zur nächsten, kontrollierte die Qualität der steigenden Produktion und beaufsichtigte den Abtransport, den die Kinder von Palm Eiland besorgten.
Dann zog er mit den Kindern zum Frauenhaus und ließ dort die Geschenke der Männer aufladen und zu seinen Lagerhütten bringen.
Damit noch genügend Fisch für alle da war, hatte er den Bau eines großen Mehrbaumbootes angeregt und die Fischer dazu gebracht, sämtliche kleinen Netze zu einem großen Schleppnetz zu verknüpfen.
Dadurch musste nur noch eine Handvoll Männer auf See und fischen, während die anderen sich ausschließlich der Schnapsproduktion widmen konnten.

„Orchidea und Sebastiano,“ sagte eines Abends Kokosschnaps zum Häuptling und seiner Frau, „ich habe euch zu mir rufen lassen, weil es nun bald an der Zeit ist, das große Geschäft zu machen.“
Sebastiano, vom vielen Kosten seiner Selbsterzeugnisse etwas beduselt, nickte, ebenso wie Orchidea, seine Frau, die reichlich erschöpft war vom Kosten der süßen Frucht der Liebe. Was ein großes Geschäft war, konnten sie mittlerweile beide erahnen.
„Wir alle haben in der letzten Zeit hart gearbeitet und so werdet ihr sicherlich Verständnis dafür haben, dass ich nun ein wenig Urlaub von diesen Strapazen brauche. Ich muss meinen Kopf wieder frei machen, um mich auf Größeres vorzubereiten.“
Die Oberhäupter der Palm Eiländer nickten, sie nickten in letzter Zeit eigentlich immer, wenn sie mit Kokosschnaps sprachen und hörten weiter zu.
„Deshalb übertrage ich euch nun im vollsten Vertrauen all meine Verantwortung und werde nach meinem Urlaub meine Kraft hundertprozentig für die wichtigste Aufgabe einsetzen, nämlich Palm Eiland zu einem Markenzeichen zu machen.“
Auch wenn das Häuptlingspaar vor Erschöpfung nicht die Hälfte von dem verstand, was Kokosschnaps da vorschlug, nickten beide wie gewöhnlich.
„Nun, einverstanden?“
„Einverstanden,“ antworteten beide unisono und sie besiegelten den Vertrag, indem sie sich umarmten und auf die Schultern klopften.

So kam es, dass sich Kokosschnaps auf den höchsten Berg in die Hütte zurückzog, die der Stamm ihm als Urlaubsdomizil gebaut hatte und sich dort, im vollsten Vertrauen auf den Häuptling und seine Frau, drei Monate lang entspannte, vom ganzen Stamm mit dem Besten vom Besten versorgt.
Doch was er nicht ahnte war, dass, obwohl Orchidea und Sebastiano der Sache äußerst dienlich waren, sich eine gewisse Unzufriedenheit unter der Bevölkerung von Palm Eiland breit machte, die erst im Verborgenen keimte, sich aber im Laufe der Reformen auswachsen sollte.
„Ehrlich, ich hab´s satt, ständig nach irgendwelchen Geschenken für meine Frau suchen zu müssen, nur weil ich die Frucht der Liebe mit ihr kosten will,“ gestand eines Morgens ein Freund dem anderen.
„Mir geht´s genauso. Ständig kommt sie mit was Neuem an: ´Haifischzähne hast du mir doch schon gestern angeschleppt. Und diese dämlichen Korallen kann ich auch schon nicht mehr sehen. Wie wär´s mal mit was Neuem, mein Lieber?´ Schrecklich, sage ich dir.“
Auch unter den Frauen machte sich leiser Unmut breit:
„Ständig ist mein Kerl besoffen und stinkt nur noch nach diesem ekligen Kokosschnaps,“ verriet eine der anderen beim Kochen.
„Meiner auch. Und wenn ich ihn dazu auffordere, mit mir die Frucht der Liebe zu kosten, lacht er nur dümmlich, verdreht die Augen und schläft auf der Stelle ein.“
Selbst die Kinder zeigten einen gewissen Unwillen gegenüber den großartigen Reformen, die Kokosschnaps eingeführt hatte:
„Den ganzen Tag schlepp ich schon diese Kokosnüsse hin und her und mein Papa will ständig noch mehr davon.“
„Und dann all diese Geschenke, die wir über die Insel tragen müssen. Wir können ja gar nicht mehr miteinander spielen.“
Den Fischern in dem großen Mehrbaumboot wurde es allmählich auch zuviel; der Fang war zwar üppig, aber das Einholen des riesigen Netzes erforderte all ihre Kraft, so dass sie jeden Abend vollkommen erschöpft auf Palm Eiland ankamen.
„So kann es nicht weiter gehen,“ tuschelten alle hinter vorgehaltener Hand.

Woran man sieht, dass der Mensch hofft, so lang er lebt, dass es ihm irgendwann einmal noch besser geht.
Wir alle wissen, dass auch der längste und schönste Urlaub enden muss, das Leben ist schließlich nicht zum Vergnügen da und so stieg auch Kokosschnaps eines schönen Tages von seinem hohen Berg herab und stellte sich mit ausgebreiteten Armen auf den Hauptplatz im Dorf:
„Meine lieben Palm Eiländer. Nach reiflichen Überlegungen bin ich zu dem Schluss gekommen, aus unserer schönen Insel ein Touristenzentrum zu machen. Dafür brauchen wir allerdings ein wenig Startkapital. Denn wir müssen die Insel nicht nur elektrifizieren, sondern auch weitere Hütten in Strandnähe bauen, die wir mit edlen Möbeln einrichten werden. Dann werde ich auf der Großen Insel Werbung für Palm Eiland machen und im Handumdrehen sind wir reich.“
Der Jubel hielt sich in Grenzen, doch da es alle mittlerweile gewohnt waren zu jedem Vorschlag von Kokosschnaps zu nicken, taten sie auch dieses Mal nichts Anderes.
Unbeirrt fuhr Kokosschnaps fort: „Ihr werdet ein sehr großes Mehrbaumboot bauen, damit ich unsere Handelsgegenstände, also den Schnaps und die Liebespfänder zur Großen Insel transportieren kann. Dort werde ich die Ware an den Mann bringen und dann mit den nötigen Materialien zurückkehren.“
Wieder nickten sämtliche Palm Eiländer nur stumm.
„Nun, einverstanden?“
„Einverstanden,“ murmelten alle im Chor und sie besiegelten den Vertrag, indem sie sich umarmten und auf die Schultern klopften.
„Also dann, frisch ans Werk. Ihr werdet sehen, wenn die ersten Touristen hier zu Gast sind, werdet ihr froh sein, meinen Ratschlägen gefolgt zu sein.“

So wurden die geradesten und höchsten Palmen gefällt, mit Äxten und Hobeln bearbeitet und schon nach einer Woche lag das größte Boot, das auf Palm Eiland je gebaut worden war, bereit zur großen Überfahrt bedenklich tief im seichten Wasser der kleinen Bucht.
Mit der größten Kürbisflasche voller Kokosschnaps wurde es von Orchidea auf den Namen „Großartige Zukunft“ getauft, denn diese würde mit ihm ja bald kommen, versprach Kokosschnaps noch einmal mit salbungsvollen Worten.
Ein großes Palmblätterdach spendete den Gütern, die von den Kindern an Bord geschafft worden waren den nötigen Schatten.
„Gut gemacht, Leute. Nun werde ich ausfahren und dann das große Glück nach Palm Eiland bringen.“
Kokosschnaps winkte seinem Stamm noch einmal vom Meer aus zu, rückte seine riesige Sonnenbrille zurecht, schob seinen Strohhut in den Nacken und paddelte davon.

Drei Jahre waren seitdem wieder vergangen und Kokosschnaps war noch immer nicht zurückgekehrt.
So war das gewohnte Leben nach und nach wieder eingekehrt; die Männer fischten wieder jeder für sich auf dem Meer, tranken nur noch zu Festlichkeiten ein wenig Kokosschnaps, aber brachten nun ihren Frauen manchmal Geschenke mit.
Die Frauen gingen weiterhin barfuß und wußten, dass sie trotz rauer Sohlen, die schönsten Füße der Welt hatten und schämten sich nicht mehr.
Die Kinder spielten, wie es auf Palm Eiland immer schon gewesen war.
Manchmal erinnerte sich einer an Kokoksschnaps und dann sprach man einige Worte über diese kurze Zeit des entgangenen Fortschritts.
„Was mir daran gut gefallen hat, war, dass das mal was Anderes war.“
„Ja schon, aber ich konnte diesen Kokosschnaps nachher nicht einmal mehr riechen, ohne dass mir davon schlecht wurde,“ antwortete ein Anderer darauf und alle lachten lauthals.
„Was wohl aus ihm geworden ist?“
„Er wird unsere Waren verkauft haben und nun mit einer glattsohligen anmutigen Dame irgendwo auf der Großen Insel eine Touristenhütte eröffnet haben,“ erwiderte eine der Frauen darauf.
Doch Monate später fand Kokosschnaps´Bruder in seinem Netz etwas, das auch diese Frage ein für alle Male zu beantworten schien.
Es war ein, vom Ungeheuerlichen Hai zerbissenes Stück Stoff, auf dem noch schwach der Aufdruck „Paradise No“ zu erkennen war.
Traurig schenkte er dieses Überbleibsel seiner Frau, die so gerne den weichen Stoff berührte. © 26.04. 2004 Jon

Sonntag, 18. Dezember 2005

Ein Fall für Blei - Fall 2: Der Raubüberfall

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Freitag, 27. Juli 2012

Kommissar Blei fühlte sich heute Morgen wie einer dieser Kommissare aus skandinavischen Kriminalromanen, die ebenso schwergewichtig wie schwermütig jeden noch so dubiosen Fall aufklärten und nebenbei Familienkonflikte lösten, obwohl sie doch eigentlich ins Krankenbett gehörten und nicht in den öffentlichen Straßenverkehr, den sie mit ihrer latenten Alkoholisierung gefährdeten.
Blei lag matt auf seinem schmalen Bett, die Sonne schien kaltgelb durch den dünnen naturfarbenen Vorhang; durchs offene Fenster hörte er die Stimmen einiger Kinder, die auf dem nahe gelegenen Spielplatz tobten.
Blei drehte sich auf die Seite, schloss die Augen und versuchte wieder einzuschlafen. Doch er wusste, dass es zwecklos war; einmal wach, arbeitete sein scharfer Verstand wie ein schweizer Uhrwerk.
Wenn keine besondere Vorkommnisse eintraten, hätte er die nächsten zwei Tage frei.
Er wälzte sich aus dem Bett, stand schwerfällig auf, sein Übergewicht machte ihm wieder einmal zu schaffen, dann drehte er seinen Herzschrittmacher per Fernbedienung um einige Takte höher, was ihm das aufwendige Kaffe kochen ersparte und schlurfte ins Bad.
Ein Blick in den Spiegel genügte, um ihm klar zu machen, dass die besten Tage unwiderruflich hinter ihm lagen.
Auch die Rasur konnte daran nichts ändern, der Lack war ab.
Er schaltete das Radio ein, um die Nachrichten zu hören.
Außer der Meldung, dass ein weiterer namhafter deutscher Politiker einem Attentat zum Opfer gefallen war, mittlerweile der Dritte seit den letzten Neuwahlen und der Ankündigung weiterer Verschärfungen im sozialen Bereich, gab es nichts Neues und Blei schaltete das Radio aus.
Die Schlagzeile der Tageszeitung, die er am Tisch las, verkündete ein neues Rekordhoch der Arbeitslosenzahlen, als ob das noch irgendjemanden interessieren würde.
Gelangweilt zog Blei den Vorhang auf und sah aus dem Fenster. Die heruntergekommenen Fassaden der gegenüberliegenden Häuser reflektierten die grelle Sommersonne und blendeten ihn.
Immer mehr blinde Fenster, hinter denen sich kein Leben mehr abspielte, unterstrichen die Tristesse der Wohnanlage.
Früher hatten hier viele Familien mit Kindern gewohnt, doch kaum jemand konnte sich noch die Mieten leisten und so standen die meisten Wohnungen leer.
Blei sah auf den Spielplatz im Hof, auf dem die Kinder, deren Stimmen ihn vorhin geweckt hatten, sich die Zeit damit vertrieben, die wenigen noch erhaltenen Spielgeräte auseinander zu nehmen. Sie arbeiteten recht fachmännisch mit diversen Werkzeugen, die sie wohl ihren Eltern oder im nächstgelegenen Baumarkt gestohlen hatten, sodass die Demontage der maroden Klettergerüste und Rutschen schon weit vorangeschritten war.
Waren sie einmal nicht damit beschäftigt, schlugen sie aufeinander ein, oder saßen rauchend und Bier trinkend in einer selbst gebauten Hütte um ein stinkend qualmendes Lagerfeuer und erzählten sich zotige Witze, oder warfen sich Beleidigungen an den Kopf.
Auch wenn das schon längst keine bevorzugte Wohngegend mehr war, lebte Blei gerne hier.
Die Kids akzepierten ihn und wenn wieder einmal Anschläge auf die größtenteils schrottreifen Autos der Erwachsenen verübt wurden, fehlte an seinem höchstens mal ein Außenspiegel, denn sie wussten, sie konnten sich, sobald es Schwierigkeiten mit der Polizei gab, darauf verlassen, dass er sich für sie einsetzte.
In Wahrheit hatte er keine Lust mehr umzuziehen, sich anderen Menschen anzupassen; hier war er frei von gesellschaftlichen Verpflichtungen, jeder wusste, dass er Kommissar für Todesermittlungen war und grüßte ihn. Manche sogar freundlich.
Blei nahm die frische Unterwäsche, die er sich am Vortag herausgelegt hatte, vom Stuhl und zog sich an.
Zum dunklen Anzug und dem hellen Hemd band er sich eine dezente Krawatte um, denn er wollte auf der Bank seinen Kredit aufstocken und dafür so seriös wie möglich wirken.
Aus Gewohnheit öffnete er die Schublade unterm Küchentisch, um seine alte Walther PPK herauszunehmen, aber dann fiel ihm ein, dass er diese ja bei den Ermittlungen im Fall "Gummistiefel" verloren hatte.
Blei kam sich ohne Waffe nackt vor und so ging er zu der verschlossenen Kiste aus angerostetem Stahl, die sein Großvater aus dem Zweiten Weltkrieg gerettet hatte und öffnete sie mit einem kleinen Schlüssel, den er immer bei sich trug.
In dieser Kiste hatte Bleis Großvater all das aufbewahrt, was ihm erhaltenswert erschienen war.
Blei kramte zwei alte Handgranaten heraus; die würden ihm das gute alte Gefühl der Sicherheit zurückgeben, das ihm seit dem Verlust der Walther PPK abhanden gekommen war.
Er steckte die Handgranaten in die linke und rechte Tasche seiner ausgebeulten Anzugjacke und verließ, ohne die Tür zu verriegeln, seine Wohnung.
Im düsteren Hausflur, irgendjemand hatte die Leuchtmittel gebrauchen können und sämtliche Glühbirnen entfernt, stolperte er über etwas Weiches, das quer auf dem letzten Treppenabsatz lag.
Blei beugte sich herunter, erkannte seinen erwerbslosen Nachbarn Fridolin Tellmann, einen ehemaligen Professor für Philosophie, der ihn, hochgradig alkoholisiert, mit glasigen Augen anstarrte und vor sich hin murmelte:"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Haste mal´ne Zigarette?"
Blei zerrte den stark schwankenden groß gewachsenen Mann auf die Füße, hakte sich bei ihm unter und führte ihn vor die Tür.
Er setzte ihn auf einem alten Autoreifen ab, der dort lag, steckte ihm eine Zigarette in den Mund und gab ihm Feuer:"Bleib hier sitzen Fridolin, sonst fackelst du noch das ganze Haus ab. Ich werde dich auf dem Rückweg in deine Wohnung bringen."
Tellmann nickte schwach mit dem Kopf, die Zigarette klebte an seinen Lippen und aschte auf die abgeschabte Jacke:"Okay, Blei, ich warte hier."
Kommissar Blei kämpfte sich durch den Unrat, der auf dem Gehweg lag, grüßte im Vorübergehen den Junkie an der Ecke, die Nadel im Arm, der ihn zahnlos anlächelte und dabei in aller Ruhe den Kolben der Spritze herunterdrückte.
Blei steckte sich eine Zigarette an und ging die Straße herunter.
In einer kleinen Seitenstraße befand sich eine Filiale der Spaßkasse.
Blei ging zu einem freien Schalter und sagte der hübschen Blondine mit Brille, dass er einen Termin beim Filialleiter habe.
Mit schlanken langen Fingern tippte die Blondine seinen Namen in den Computer:"Gehen Sie bitte in den Wartebereich, Herr Blei. Herr Sonntag wird Sie in wenigen Minuten dort abholen."
Blei ließ sich auf das stark riechende schwarze Ledersofa im Bauhausstil sinken und nahm eine bunte Werbebroschüre aus dem Ständer: "Wir machen Ihr Geld!"
"Herr Blei?" Ein gut durchtrainierter Mittvierziger in korrektem Outfit stand erwartungsvoll vor Blei und hielt ihm die Hand hin.
"Ach, Sonntag. Guten Tag," sagte Blei nur, stand auf und folgte dem Filialleiter in dessen Büro.
"Nun was kann ich für dich tun?", fragte Sonntag, die Tür hinter sich schließend.
"Das Übliche," antwortete Blei, "ich brauche wieder mal ein wenig Bargeld."
"Ich hab mir deine Auszüge schon angesehen. Der Kreditrahmen ist voll ausgeschöpft, bei deinem Gehalt." Sonntags Gesicht war in Falten geworfen.
"Wie geht´s denn eigentlich deiner Nase mittlerweile?", fragte Blei desinteressiert.
"Blei, auch wenn du mich damals vor dem Knast bewahrt hast, mir sind die Hände gebunden. Ich bin nur ein kleines Rädchen im großen Geldbetrieb, sonst nichts. Als Filialleiter der Spaßkasse kann ich in deinem Fall leider nichts mehr tun. Du stehst schon jetzt vollkommen in der Kreide bei uns. Soll ich dir die Anfragen wegen dir heraussuchen? Die oben wollen wissen, wie ich dir einen so großzügigen Kredit einräumen konnte."
"Dreißigtausend nennst du großzügig? Was ist mit den Firmen, denen ihr Millionen zuschachert?"
"Blei, bei aller Freundschaft, du weißt doch, wie das läuft; Connection ist alles im Geldgeschäft. Du musst nur die richtigen Leute kennen und schon rollt der Rubel."
"Ich kenne dich. Hätte ich dich nicht damals aus dem Puff herausgeschleust, wär´s das als Filialleiter mit dir gewesen, so zugekokst, wie du warst."
"Blei, ich bin dir dafür auch total dankbar, aber ich kann wirklich nichts für dich tun. Was brauchst du denn? Vielleicht kann ich privat einspringen?"
"Nochmal dreißigtausend. Als Ruhekissen."
"So viel hab ich nicht. Höchstens zwei-, allerhöchstens dreitausend kann ich dir leihen."
"Lass stecken, du bist doch selbst immer mau."
Blei stand auf und ging zur Tür:"Mach´s gut Sonntag und bleib sauber."
Sonntag blieb hinterm Schreibtisch sitzen und nickte:"Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun."
"Wer weiß?", sagte Blei und schloss die Tür.
Blei stutzte als er in den Schalterraum kam: Dort stand eine kleine Frau, die eine abgesägte Schrottflinte an ihren Bauch drückte und die Angestellten in Schach hielt.
Sie war von oben bis unten in einen blauen Monteursoverall gekleidet, auf dem Kopf eine Gummimaske, die den derzeitigen Kanzler karikierte.
Am Geldschalter war der Kopf der Opposition damit beschäftigt, hastig Geldscheine in schwarze Müllsäcke zu stecken; auch hier handelte es sich der Figur nach um einen weiblichen Gangster.
"Bleib stehen," rief die Frau mit der Kanzlermaske Blei mit rauchiger Stimme zu, "sonst huste ich dir was."
Blei lächelte und setzte sich langsam auf den Teppichboden.
"Was gibt´s da zu grinsen, Fettbacke? Am besten ist es, du legst dich gleich ganz hin und machst ein Schönheitsschläfchen. Könnte dir nicht schaden, Dicker."
Blei lag nun auf dem Boden, Arme und Beine ausgestreckt und wartete ab. Momentan könnte er nichts anderes tun.
Nach ungefähr fünf Minuten war der Spuk vorüber und etwa eine halbe Stunde später wimmelte es in der Spaßkasse und davor von Polizisten. Ein Hubschrauber kreiste über dem Wohngebiet.
Nachdem auch Blei seine Aussage gemacht hatte, beschloss er, einen kleinen Spaziergang durch den Park zu machen.
Fettbacke, dachte Blei grinsend, na dir werde ich Fettbacke geben.
Blei betrat das Altersheim am Park und ging in den zweiten Stock ins Zimmer zweihundertzwölf, setzte sich dann auf eines der beiden Betten und nahm einen der vielen Kriminalromane, die sich auf dem Nachttisch stapelten.
Einige Minuten später kamen zwei alte Damen herein und blieben erstaunt im Zimmer stehen:"Was machst du denn hier, mein Junge?", fragte die Kleinere Blei.
Blei lachte:"Das wisst ihr doch genau, oder etwa nicht?"
Die beiden setzten sich erschöpft auf das gegenüberstehende Bett und sahen auf den Boden.
"Was hast du jetzt vor?", fragte ihn diesmal die andere der beiden Damen.
Blei genoss die Situation und machte ein ernstes Gesicht:"Ihr wisst doch wohl noch, mit was ich meine Brötchen verdiene? Dass ich bei der Polizei arbeite?"
Beide nickten:"Ja leider."
"Also, wo habt ihr es versteckt?"
"Im Heizungskeller, hinterm Gasofen."
"Ihr solltet euch was schämen," sagte Blei streng, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen, "in eurem Alter."
"Das ist es ja gerade. Mit dem bisschen Taschengeld können wir uns nicht einmal mehr ein Eis leisten, geschweige denn vernünftige Medikamente."
"Und ein Anteil sollte auch für dich sein, mein Junge; wo du doch immer so knapp bist."
"Bestechung macht euren Fall auch nicht besser. Ein umfassendes Geständnis ist da eher angebracht, finde ich."
"Also gut, wir gestehen alles. Was hab ich nur mit dir falsch gemacht, dass du jetzt so ein Spießer geworden bist? Wenn das dein Vater mitbekäme, Gott hab ihn selig, der Glückliche ist ja schon bevor du zur Polizei gegangen bist, von deinen Kollegen ermordet worden."
"Getötet, Mutter, und das, nachdem er zwei Beamte angeschossen hatte, die nur seinen Ausweis kontrollieren wollten."
"So ist das immer mit dir; kaum erwähne ich deinen Vater, ziehst du ihn in den Dreck. Dabei hat er immer gut für uns gesorgt und dir das neueste Spielzeug von der Arbeit mitgebracht."
"Gestohlenes Spielzeug, Mama. Vater war ein gewöhnlicher Dieb und Einbrecher."
"Meine Güte, Junge, wie kann man nur so kleinlich sein?"
"Halt du dich daraus, Tante Lisbeth," sagte Blei, "also auf und ab in den Heizungskeller."
"Willst du denn nicht deine Kollegen rufen, um uns festnehmen zu lassen."
Blei schaute sich das Zimmer des Altersheimes an und schüttelte den Kopf:"Ihr seid hiermit schon genug bestraft. Pack ein wenig Wäsche zur Tarnung in den Koffer da und gib ihn mir."
Blei schleppte den großen Koffer in den Heizungskeller, Mutter und Tante im Gefolge, die ihm Anweisungen gaben, wo er den schwarzen Müllbeutel zu suchen hätte.
Blei stopfte den Sack in den Koffer und verschloss ihn sorgfältig.
"Okay, ihr geht jetzt auf euer Zimmer und macht hier so weiter wie bisher. Demnächst komme ich euch besuchen und bring euch ein Eis mit," sagte Blei, als sie wieder im Zimmer waren.
"Ich wusste doch, dass er irgendwann wieder vernünftig wird," hörte er seine Mutter zu ihrer Schwester sagen, als er das Zimmer verließ.
Blei ging mit dem Koffer an der Hand nach Hause.
Er zog den Vorhang in der Küche zu und packte den schwarzen Müllbeutel aus, nachdem er sich Haushaltshandschuhe übergezogen hatte.
Dann stopfte er die beiden blauen Monteuroveralls und die Masken wieder zurück in den Sack und stapelte das Geld auf dem Küchentisch aufeinander.
"Vierundsiebzigtausendsechshundertdreißig. Nicht schlecht," meinte er, nachdem er das Geld gezählt hatte, "eine Menge Taschengeld für den Lebensabend."
Er warf einen Blick auf die mittlerweile stockfinstere Straße.
Ein herrlicher Abend für einen Spaziergang, dachte er
Blei nahm den Sack unter den Arm und schlenderte in eine Seitenstraße.
Der ist geeignet, dachte er beim Anblick eines pechschwarzen Autos, das einigermaßen fahrtauglich aussah und brach es auf.
Am Stadtrand fand er ein brachliegendes Industriegebiet.
Er schob den schwarzen Müllbeutel unter den Sitz, öffnete Motorhaube, Kofferraum und Tank und setzte sich hinter eine kleine Mauer.
Dann holte er eine der beiden Handgranaten aus seiner Jackentasche, entsicherte sie, zählte bis drei und warf sie in den Kofferraum des Autos. Dasselbe machte er mit der anderen, nur dass er diese ins Auto warf.
Beide Granaten explodierten kurz hintereinander, die Türen flogen meterweit durch die Luft, das Dach wölbte sich, der Wagen begann zu brennen, wie Blei gehofft hatte.
"Wirklich ein herrlicher Abend für einen Spaziergang," dachte Blei und steckte sich eine Zigarette an. © 2004 Jon

Freitag, 16. Dezember 2005

Die Versehung

Gnadenlos, brutal, bitter hat sie wieder zugeschlagen.
Gestern stand ich noch in der Blüte meines Lebens, heute bin ich ein Wrack.
Und das innerhalb weniger Stunden.
Über Nacht.
Gestern noch war mir mein Leben leicht wie eine Feder, heute scheint jeder einzelne meiner Knochen mit Blei gefüllt zu sein.
Jaha, sie schlug wieder zu.
Erbarmungslos, grausam, blindwütig.
Auch dich kann sie jederzeit erwischen.
Du ahnst nichts Böses, während du an der windumtosten Straßenbahnhaltestelle deines Schicksals harrst.
Dein Schicksal, das dich in Geborgenheit wiegt, dich an dein warmes Zuhause denken lässt, Unwissender, du.
Noch ärgerst du dich nur über die Verspätung deiner Straßenbahn, aber Freund sei dir gewiss:
Dies´ ist das geringere Übel.
Denn dein Schicksal, Kismet nennen es wohlklingend die Araber, Fatum die gelehrten Lateiner, hat schon sein Päckchen für dich bereitet, dein Ränzel ist gepackt.
Du, der du da dösend vor dich hinbrütest, du, der du nichts von dem weißt, was auf der großen Rolle da oben für dich geschrieben steht, du, im Winde der Vorbestimmung, magst du auch an ein Schicksal nicht glauben, aber dennoch hast du ein solches, dich erwischt es genau so, genau so, wie es mich erwischt hat.
Jaha, warst du noch gestern im Vollbesitz deiner geistigen Kräfte ein Gigant, bist du doch heute schon nur ein zitternder Wurm im Staube sich windend.
Auch dich hat sie nun in ihren Fängen, ihre Klauen verursachen dir Kopfschmerz, ein heißes Fieber durchströmt deinen sonst so gestählten Körper, aber ach ...
Diese verflixte Grippe.
Jedes Jahr derselbe Scheiß. © 2003 Jon

Mittwoch, 14. Dezember 2005

Schmerzhaft trivial IV

Seitdem er jeweils ein Auge auf die Zwillingschwestern geworfen hatte, war Rex, der Blindenhund, sein bester Freund.

Schmerzhaft trivial III

Nach dem schweren Unfall waren ihm beide Arme amputiert worden, doch in der Rehabilitation hatte er gelernt, damit zurechtzukommen, sehr zur Freude seiner Frau:
Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, fielen sie wenig später in ihrem kleinen Schlafzimmer stürmisch übereinander her und er zog sie mit den Augen aus.

Schmerzhaft trivial II

Sie spürte einen stechenden Schmerz in ihrem zarten Nacken.
Langsam drehte sie sich um und sah ihn, diesen eisernen Macho aus der Dönerbude, dessen stahlharter Blick sich gnadenlos in sie bohrte.

Schmerzhaft trivial

Es war sehr spät geworden auf der Party.
Der Mond warf sein kaltes Licht auf die beiden Gestalten, die nun frierend vor dem abgelegenen Haus auf der Straße standen.
Er redete ununterbrochen auf sie ein und sie?
Sie hing an seinen Lippen.

Freitag, 9. Dezember 2005

Der Brüller - Ein Tatsachenbericht

Ja, dachte ich, gehste mal wieder mit ins Theater, war ja schon lange her und die Tante meiner Liebsten wollte gern einen Klassiker von Brecht mit uns sehen.
Brecht, nicht schlecht, dachte ich noch und schon saßen wir ganz offensichtlich in einer Schülervorstellung, - welcher debile Abenteuerpädagoge hatte diese Kleinkriminellen nach acht Uhr eigentlich noch auf die Straße, geschweige denn ins Theater getrieben?-, um uns "Mutter Courage und ihre Kinder" anzusehen.
Dass eigentlich wir diejenigen waren, die Courage brauchten, um nicht nur diese dolle Provinzposse, zu der sie der Regisseur eingedampft hatte, sondern auch diese Kinder heil zu überstehen, stand leider nicht als warnender Hinweis auf unseren Eintrittskarten und so saßen wir gänzlich unbewaffnet vor einem vor sich hindümpelnden Stück deutscher Regiekunst und dessen Zwangsrezipienten; klar wurde ein Karren auf der Bühne hin und her gezogen, das gehört sich eben so bei der mutigen Mutter von Brecht; und klar war das rege Mütterchen ganz volksnah gewandet.
So gesehen fühlte man sich gleich in längst vergangene Zeiten versetzt, was durch die ausfallenden Einwürfe besagter Schülerhorden stark verstärkt wurde, welche gleich drei- oder vier Reihen weit und breit vor uns auf ihren Sitzen herumtollten und -tönten, vor und hinter sich Verbalinjurien verbreitend, um allen Zweiflern zu beweisen, dass selbst heutzutage nicht alle Kreativität und jeder Witz verloren ist, wie immer wieder behauptet wird.
Es war, um es kurz zu sagen, eine Vorstellung wie zu Shakespeares besten Lebzeiten; wenigstens das Schulvolk kochte und brodelte; aber leider fehlte zur richtigen Stimmung das Bewerfen der Schauspieler mit fauligem Gemüse, das doch freundlicherweise beim Eintritt an die Besucher hätte verteilt werden können.
Dieses Gemüse hätte auch ich mir einstecken sollen, denn das, was auf der Bühne vor sich ging, steigerte sich allmählich zu einer billigen Ingo-Appelt-Kopie aus seiner spätpubertären "F-Phase":
Schon war mir das Kinn auf die Brust gesunken, die Lider zugefallen, kaum hatte ich mich dem brausenden Tosen der vor mir sitzenden Gymnasiasten als Untermalung meines gerechten Schlafes hingeben wollen, da, ausgerechnet da - bisher war nichts anderes als mäßiges Geplänkel frühverrenteter Schauspielbeamter über den Bühnenrand gekrochen -, da riss sich einer der durchtrainierteren Jungmimen mit heroisch-dramatischem Gesicht das härene Hemd vom schwitzenden Leibe - fraglich wodurch er eigentlich ins Schwitzen gekommen sein mochte - und stellte sich in völkischer Arno-Breker-Positur, so was wie der „Hammerschwinger“ muss wohl Vorlage gewesen sein, inmitten der Bühne auf und brüllte – das, muss ich jetzt lobend erwähnen, gelang ihm ganz hervorragend, jedenfalls so lange es ihm sein stockender Atem erlaubte, der wegen großer Aufregung aufgrund seiner sehr, sehr gewagten, ja geradezu revolutionären Spielweise und gesellschaftlicher Brisanz verpönten, den kultursuchenden Spießbürger schockierenden anarchischen Energie hörbar schwer wurde – kurz, er stellte sich mit nacktschweißigem Oberkörper mitten auf die Bühne und brüllte, dass selbst die tumbesten Toren vor mir es hören mussten, mit vor Freude über seine unglaubliche Unverschämtheit überschnappender Stimme, aus sich blähendem Halse, so dass er mich an den afrikanischen Brüllfrosch erinnerte: „FICKEN. FICKEN. FICKEN.“
Kein anderer Laut war mehr zu hören, als dieses arhythmische Stakkato-Ficken des nun mehr und mehr kläglich krächzenden Mimen, dessen Gesichtsfarbe einen besorgniserregenden Farbton angenommen hatte.
Selbst die beredsamsten Gymnasiasten verstummten schlagartig äußerst beeindruckt.
Da sprach nicht nur einer ihre Sprache, sondern traute sich das auch noch mit nacktem Oberkörper auf offener Bühne stehend, eine Hand am Hodensack wie Michael Jackson.
Geil, das war nun wirklich höchste Schauspielkunst, meinte in diesem Moment moderner epischer Dramatik noch der stumpfsinnigste Oberschüler blitzartig zu erkennen; das war ja hier wie bei Mutti vorm Fernseher, brüllend komisch.
Niemand stimmte zum Chor ein, wie ich es zuerst erwartet hatte; auch kein Kanon kam auf; wahrscheinlich lag es aber nur daran, dass der Pausengong ertönte und sich alles ins kleine Theatercafé nach vorn drängelte, um auf jeden Fall das allererste Bier zu ergattern.
Wie es nach der Pause weiterging?
Keine Ahnung, denn wir verzichteten auf altdeutsche Kultur im modernden Provinzschlafrock und gingen lieber ins nächste Restaurant:
Wer da Sauerbraten bestellt, bekommt ihn auch. © Jon

EINMAL CITY, BITTE

Sich im Großstadtdschungel von Liane zu Liane schwingen, um in die City zu kommen, das wär noch was. Dabei den markigen Tarzanruf auf den Lippen.
Doch im Dickicht der Städte ist kein Platz für solch ökologisch einwandfreie Einrichtungen und deshalb wurde die Straßenbahn erfunden.
An sich eine feine Sache, wenn es da nicht die vielen anderen Mitfahrer gäbe, die sich ausgerechnet jetzt mit derselben Straßenbahn auf den Weg ins Stadtzentrum gemacht haben.
Schon beim Einsteigen dringen dem ahnungslosen Passagier derbe Geruchsmischungen in die weit geöffneten Nüstern, die jeden Parfümhersteller verzücken würden.
Draußen ist es heiß, doch hier drinnen herrschen Temperaturen, die jeden Wüstensohn entzücken würden. So steht jeder Fahrgast im eigenen Saft; der Vergleich mit Frankfurter Würstchen im zarten Saitling drängt sich auf, so dicht gedrängt kommt man sich näher.
Strohblond gebleichte Damen, deren Dauerwellen sich lockig in mein Auge bohren, tauschen untereinander die neuesten Klingeltöne aus, so weit das ihre aufgeklebten eckigen Fingernägel zulassen. Schwere Düfte steigen von ihnen in meine Nase: Vanille, Moschus, Kokos.
Ein junger Mann entdeckt am anderen Ende der Bahn einen Freund, den er seiner überschäumenden Freude nach zu urteilen seit mindestens vierunddreißig Jahren für tot, oder zumindest verschollen gehalten haben muß; er brüllt ihm durch mein Ohr etwas zu, das ich beim besten Willen nicht verstehen kann. Mag sein, daß es daran liegt, weil er eine fremde Sprache spricht, oder weil es in meinen Ohren klingelt.
Endlich öffnen sich die schmalen Türen, ich könnte aussteigen, aber irgend etwas hindert mich daran.
Mein Blick auf den ach so süßen, kleinen Fellballen, der sich in meiner Wade verbissen hat und nun an einer Kiefersperre zu leiden scheint, löst bei der Besitzerin, die offensichtlich den Bruder des schrecklichen Ungetüms als Perücke auf dem Kopf trägt, den einzig wahren Satz aller Hundebesitzer aus:
„Der will ja nur spielen.“
„Ich auch,“ rufe ich aus der Bahn springend und schieße ihn der Hundefreundin gekonnt in die Arme.
Beide strahlen glücklich und so gehe auch ich gut gelaunt in die City. © 06.08.2004 Jon

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This California surfer and his girlfriend were some of the young folks who went to live wild in nature during the late 1960s and early '70s, mostly in California, Hawaii and parts of Europe. This most radical form of communalism was a replay of the Wandervogel and Naturmensch period some 60 years before in Germany and Switzerland (Taylor Park, Kauai, Hawaii, 1971)

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