Donnerstag, 8. Dezember 2005

Herzlich willkommen, Fremder

Egal, wie es einem geht, man sollte immer lächeln.
Und gut gekleidet sein, sauber vom Scheitel bis zur Sohle, wie frisch aus dem Ei gepellt.
Das schafft Vertrauen und öffnet die Herzen.
Vor allem aber auch die Portemonnaies.
Allein darauf kam es mir in meiner momentanen, ich möchte mal sagen, Situation, an.
In diese Situation bin ich, das schwöre ich, vollkommen unverschuldet geraten. Gut, es mag ein wenig, na sagen wir mal Dummheit meinerseits im Spiel gewesen sein, aber wer hätte, seien Sie ehrlich, auch damit gerechnet, dass mir mein gesamtes Gepäck, inklusive Ausweis, Mobiltelefon und Scheckkarte entwendet, ja, unter uns, gestohlen werden würde.
Somit hatte ich alles verloren, was mich bislang als Mensch unter Menschen ausgezeichnet hatte, Geld und Gut, bis auf meinen besten, weil auch einzigen Anzug, den ich zum Glück, ich weiß nicht mehr warum, auf dem Leibe trug, wie man so sagt.
So stand ich, quasi, bis auf eben meinen Anzug, nackt in der zugigen Bahnhofshalle, ein Nichts in der Fremde, mit ein paar lächerlichen Münzen in der Hosentasche...
Welch gnadenloses Schicksal hatte mich hierher verschlagen?
In dieses Rattennest voller Räuber, Strauchdiebe und Beutelschneider ...
Hunger und Durst stiegen in mir auf; noch im Zug hatte ich mich gesträubt für eine aufgewärmte Mahlzeit, die ich nicht einmal meinem Hund vorsetzen würde, wenn ich denn einen hätte, mehr zu bezahlen, als ich sonst in einem ganzen Monat für Nahrungsmittel ausgab.
Schon der Preis der Fahrkarte hatte mich glauben lassen, ich sei nun Großaktionär der Bahngesellschaft geworden, oder hätte wenigstens den Sitzplatz im Zug erworben, aber dem war wohl nicht so.
Dabei hätte ich ihn so gerne weiter vermietet, ich brauchte ihn nach der Fahrt ja nicht mehr.
Aber ich schweife ab, obwohl das eigentlich nicht meine Art ist, erst recht nicht in dieser meiner, ich möchte mal sagen, Situation.
Vom nächst gelegenen Fressalienstand wehte mir köstlichster Reibeplätzchenduft in meine weit geöffnete Nase; das Wasser lief mir im Munde zusammen und ich spürte schon das ranzige Fett mein Kinn herunter rinnen...
Denn ranzig muss das Fett aller Bahnhofsreibeplätzchenbuden sein, schon aus guter alter Tradition; der Reisende gehört abgeschreckt, damit ihn nach dem zweifelhaften Genuss dieses wahrhaft kulinarischen Willkommensgrußes nichts mehr in dieser Stadt bestürzen kann, die er unverschämterweise so dreist mit seiner Anwesenheit heimsucht.
Nach ranzig-fettigen Reibeplätzchen, im zugigen Eingangsbereich hastig herunter geschlungen, ständig von entgegenkommenden Zeitgenossen hin- und hergestoßen, erscheint einem selbst der abgebrühteste Taxifahrer wie ein Sendbote des Himmels, ein Engel auf Erden.
Dass man auch von ihm nach allen Regeln der Kunst ausgenommen wird, ist der Reisende nicht nur gewöhnt; im Gegenteil würde er sich wundern und arg betrogen fühlen, wenn es anders wäre und sich nicht mehr als Fremder in einer fremden Stadt mit fremden Banditen wähnen, sondern meinen, er säße zu Hause auf seiner Couch und würde träumen.
Nein, der Empfang in einer fremden Stadt muss so schrecklich wie möglich sein und so archaisch, wie seit längst vergangen geglaubten Steinzeiten:
So begrüßen noch heute Naturvölker ihre Gäste mit entsetzlichem Gebrüll, allerlei Tamtam, Furcht einflößenden Angriffsspielchen mit abscheulichen Waffen in Händen, so wie auch, scheinbar kultivierter dem hohen Staatsgast ein roter Teppich ausgerollt wird, auf dem er dann an einer martialischen Armee-Einheit seiner Gastgeber vorbeimarschieren muss, die Hände diskret auf seinen persönlichen Besitztümern:
"Geld noch da? Ausweis? Handy? Na, Glück gehabt."
So verinnerlicht der Reisende jederzeit den ältesten Leitspruch aller Globetrotter, die heimatlos in der Fremde herum irren:
"Zahle erst, dann überlebst du. Vielleicht."
Bin ich schon wieder vom eigentlichen Thema abgekommen?
Reibeplätzchen ...
Nein, Reibeplätzchen kamen für mich in meiner, sagen wir mal so, Situation, ü-ber-haupt nicht infrage.
Schlecht war mir auch schon so.
Das Wetter – für jeden Reisenden der alles entscheidende Faktor -, das Wetter war herrlich, als ich vor den Bahnhof trat.
Auch vor dem Bahnhof wurde die Abschreckungstaktik dieser gastfreundlichen Stadt fröhlich weiter betrieben, aber was sollte mich nun noch in meiner, nennen wir es beim Wort, Situation, noch erschüttern können; das Knurren meines Magens forderte dagegen Taten und keine ästhetischen Betrachtungen der örtlichen Architekturverfehlungen.
"Ey, Alter, hasse ma’n bisschen Asche?"
Selbst danach stand mir gegenwärtig nicht der Sinn; außerdem hatte der junge Mann mit den blond-blau-grün-rot-schwarz-gefärbten Haaren und der niedlichen Ratte in gleicher Farbgebung auf der Schulter wahrscheinlich mehr Asche auf Tasche, also mehr liquides Barvermögen zur Hand, als ich in meiner, sozusagen Situation.
"Nee, aber Sie können mir sagen, wo ich hier was zu spachteln kriege."
"Au, Alter, bis wohl auch vom Fach, wa?" fragte er mich lächelnd und da ich nun in den illustren Kreis der Heimatvertriebenen und Bestohlenen aufgenommen war, wies er mir den Weg zu einem Imbiss auf der gegenüberliegenden Straßenseite:
"Dat da is’ ne geile Frittenschmiede."
"Danke, Kumpel. Wenn ich zu Knete komme und wir uns noch mal wieder sehen, teile ich mit dir. Schönen Tag noch."
"Auch so. Und bleib sauber, Alter."
"Na, also. Gibt also selbst hier, in Klein-Chicago nette Menschen", dachte ich hoch erfreut, während ich mir die preiswerten Köstlichkeiten der empfohlenen lukullischen Heimstätte zum Munde führte, die bald darauf so aromatisch auf meiner Zunge zergingen.
’Muttis Grill’ bot wirklich Haute Cuisine vom Feinsten und Mutti selbst versöhnte mich fast mit allem, was ich hier nur kurz als ’Situation’ bezeichnen möchte.
"Beklaut hamse dich? Schätzeken, mir kannsse ja viel erzähl’n. Aber komm her, kriss’n Kaffee, damitte widda Spass inne Backen hass.“
Und wirklich vermochte dieser, in einer geblümten Tasse kredenzte heiße Kaffee es, mir ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern; mein Herz schlug schneller und mein Kopf wurde klarer.
"Na, siehsse. Kannsse widda lach’n, woll? Un gezz nochen Happen Fleisch bei deine schangeligen Pommes un du fühlss dich widda richtich kernich, Schätzeken.“
Sie bemerkte meinen Blick auf das Kleingeld, das ich auf den Tisch neben meinen Teller gelegt hatte und schüttelte ihren rundlichen Kopf:
"Nu, gezz abba ma keine Bange nich. Bis eingeladen, Süßer. Weilde so schöne blaue Augen hass“, lachte sie.
Das Fleisch war würzig und schmeckte hervorragend. Ich spürte förmlich eine herkulische Kraft in mir wachsen.
"So, nochen Kaffee, damitte widda auffe Pinne kommss un dann stecksse dein Geld ma ein. Bezahl’n kannsse später mal, wennde widda flüssich biss.“
Bis jetzt waren nur Mutti und ich in der Imbissbude gewesen, als nun ein älterer Herr herein kam und seine Bestellung aufgab:
"Einmal Pommes Frites mit heißer Currysauce und Mayonnaise, bitte. Dazu bitte einen Grillteller, aber ohne Zwiebeln, wenn’s recht ist, bitte und haben Sie vielleicht einen etwas trockeneren Rotwein? Ach, dann nehme ich doch ein kleines Gläschen davon, bitte. Vielen Dank. Wissen Sie vielleicht, wo ich einen sachverständigen Stadtführer engagieren kann? Ich hätte mir gerne die Sehenswürdigkeiten Ihrer wunderschönen Stadt angesehen.“
"Klar, krieg’n Se alles. Un Sie ham richtich Glück: Der beste Stadtführer sitzt direktemang hinter Ihnen.“
Der ältere Herr drehte sich zu mir um, sah mich wohlig satt lächelnd an meinem Tisch sitzen, musterte mich von oben bis unten und anscheinend schien mein Äußeres seiner kritischen Bestandaufnahme zu genügen:
"Das ist ja ausgezeichnet. Haben Sie denn überhaupt so spontan einen Termin für mich frei?“
Etwas verunsichert guckte ich zu Mutti herüber, die mir diskret zunickte.
"Äh, ja, das ließe sich wohl einrichten“, behauptete ich flott, nun Wolf unter Wölfen, wohl endgültig zum Hochstapler mutiert.
Mutti bediente den Gast mit dem ihr eigenen rauen Charme des Proletariats und steckte mir zwischen zwei Gängen etwas zu.
Verstohlen schaute ich mir das kleine Buch an; es war ein Stadtführer:
’Ganz H. in einer Stunde’. © 2004 Jon

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This California surfer and his girlfriend were some of the young folks who went to live wild in nature during the late 1960s and early '70s, mostly in California, Hawaii and parts of Europe. This most radical form of communalism was a replay of the Wandervogel and Naturmensch period some 60 years before in Germany and Switzerland (Taylor Park, Kauai, Hawaii, 1971)

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