Sonntag, 4. Dezember 2005

Das scharfe Schwert der spitzen Worte II - Die Lüge

Mit dem gesprochenen Wort trat wohl auch die Lüge ihren erfolgreichen Weg im Austausch unter den Menschen an.
Während der noch sprachlos lebende Vorzeit-Mensch seinen jeweiligen Vorteil in der mehr oder weniger plumpen Täuschung seiner Zeitgenossen zu erlangen suchte, konnte nun endlich mit einfachsten Mitteln jede erdenkliche falsche Information zur allgemeinen Verwirrung und Störung der zwischenmenschlichen, aber vor allem zwischengeschlechtlichen Kommunikation eingesetzt werden.
Sicher hinkten diesbezüglich die Männer anfangs den Frauen aus schon genannten Gründen (siehe auch: "Das scharfe Schwert der spitzen Worte - oder: Mit den Waffen einer Frau") sprachlich lange Zeit hinterher, aber sie sollten, manch einer bezeichnet es als Wunder der Evolution, im Laufe mehrerer Jahrtausende, obwohl von der Natur mit einem Mängelexemplar verbaler Kommunikationsfähigkeit beschenkten Gehirn dann doch lernen, sich ihrer Haut zu wehren und es den Frauen gleichzutun.
So konnten sie endlich auf die Frage: "Schon wieder Mammut?" in flüssiger Sprache erwidern: "Liebste, wie du aus der Konsistenz des dargebotenen Fleischberges erkennen kannst, handelt es sich hier keineswegs um ein ordinäres Mammutbret, sondern, siehe hier und da die Maserung des feingezogenen Muskelapparates, der diesen, von dir so voreilig gezogenen Schluss, es handle sich um ein minderwertiges Produktangebot meinerseits, ad absudum führt."
Die, vom ungewohnt üppigen Redefluss ihres ansonsten eher schweigsamen Gatten, angenehmst überraschte Steinzeitgattin (nichts liebt sie so sehr wie sprachgewandte Männer), warf zwar dennoch einen kurzen Blick auf das vom Manne derart gepriesene, ihr doch allzu stark noch immer nach Mammut riechende, zu Füßen liegende Wildfleisch, konnte aber mangels wissenschaftlich begründeter Argumentationseloquenz, - sie sammelte zu der Zeit hauptsächlich Beeren, war sich also der Qualität dieses Fleisches wenig sicher -, an dieser Stelle ihrem Angetrauten nichts anderes erwidern als: "Du wirst wohl recht haben."
Zufrieden glaubte der Mann nun, sich im Glanze seiner sprachlich wohlformulierten Lüge zurücklehnen zu dürfen, was er, erschöpft von Jagd und allzu langer Rede verhängnisvollerweise für ihn und sein Geschlecht denn auch tat, indem er sich aufs nächste Fell fallen ließ und sich schnarchend seiner damaligen Lieblingsbeschäftigung hingab, im Vertrauen auf den häuslichen Frieden, der ihm durch höchsten verbalen Einsatz gesichert schien.
Kaum jedoch hatte er sich süßesten Träumen von Jagd und zärtlichen Küssen ergeben, ergriff sein Weib das mildmüffelnde Wildfleisch und zog es hinter sich her zur nächsten Konferenz der Frauen, die am Lagerfeuer stattfinden sollte.
"Was," fragte sie, noch immer schwirrten die Worte ihres Gatten ihr im Ohr, die versammelten Frauen "ist das für ein Fleisch?"
"Mammut," sprach sach- und fachkundig eine nach der anderen und so nickte die durch süßen Klang holder Worte ent-täuschte Betrogene mit zusammengekniffenen Lippen, "dieser Neandertaler (ein sehr abfälliges Schimpfwort jener vorgeschichtlichen Tage) hat mich also belogen."
Voller Schrecken zuckten die versammelten Frauen zusammen und riefen voller Verzweiflung über den augenscheinlich gewordenen Verlust ihres Jahrhunderte währenden Monopols: "Wie konnte er nur!"
Was diesem Gespräch an Handlungen folgte, ist leider nur unvollständig übertragen, aber es sollen sich nicht wenige unschöne Szenen in den einzelnen Hütten des kleinen Dorfes ereignet haben, bei denen gewisse Fleischstücke eine Rolle spielten.
Dabei, und nun kommen wir zum Wesen der Lüge, setzt diese ja zuerst einmal die Kenntnis der Wahrheit voraus, denn erst wer diese kennt, kann sie um so beschönigender darstellen.
Was aber ist Wahrheit anderes als subjektives Empfinden?
Oder anders gesagt, schafft sich nicht jeder erst seine eigene Wahrheit?
Auch die Behauptung der Wissenschaft, sie arbeite objektiv und damit sei Wahrheit von vornherein schon gegeben, widerlegt sich in dem Moment selbst, in dem der forschende Finder meist vor allem das entdeckt, was er sich zu entdecken vorgenommen hat.
Beispiele für diese selbst erfüllende Prophezeiung zu nennende Vorgehensweise werden sich zur Genüge finden lassen, mögen sie auch noch so einleuchtend statistisch belegt sein und ihre Argumente noch so erschlagend klingen.
Wahrheit also scheint schwerer auszusprechen als die Lüge, ist sie doch äußerst individuell angelegt, während der Betrug einfacher zu gestalten ist.
Ein einfaches Ja oder Nein ist oftmals ausreichend genug, scheinbar ehrlich dennoch zu lügen, während die Darstellung einer persönlichen Wahrheit sich wesentlich schwieriger gestaltet, da sie komplexer ist.
Lügen haben also der Wahrheit gegenüber nicht unwesentliche Vorteile, zumal sie, als sogenannte Notlüge betrachtet, wie in unserem "Mammutfall" bis zur peinlichen Entdeckung derselben dazu dienen sollen, einen Zustand der Befriedung zu erzeugen.
Kommt also Ihr Lebensabschnittsgefährte, altmodisch Partner genannt, vier Wochen zu spät vom Zigarettenholen zurück und sagt mit einem breiten Lächeln auf einem, von Spuren sexueller Verwüstung gezeichneten Gesicht, er habe einfach niemanden finden können, der ihm den Zehn-Euro-Schein habe wechseln können, dann lächeln auch sie ebenso breit zurück und bereiten ihm einen schönen Abend, denn so viel Ehrlichkeit sollte in aller Liebe belohnt werden und sie wollen doch nicht etwa kleinlich auf Wahrheit bestehen, die es, wie schon bewiesen, so nicht geben kann.
Merke: Die besten Lügen erzählt man, wenn man selbst an sie glaubt. © 2005 Jon

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