Sonntag, 4. Dezember 2005

Das Schiff


Das Lagerfeuer brannte flach. Ungefähr zehn Männer saßen darum, hielten ihre Hände darüber, tranken warmes Bier aus zerbeulten Dosen und sprachen leise miteinander.
Ein großer Mann kam auf sie zu. Neben ihm ging eine Frau, noch sehr jung, sie schaute sich um, versuchte mit dem großen Mann Schritt zu halten.
Die Männer am Feuer verstummten.
„Das ist Dala. Sie wird mit uns fahren.“
Die Männer rückten enger zusammen, machten Dala Platz.
Sie setzte sich, senkte den Kopf und legte die Hände in den Schoß.
Sie trug über ihrem Kleid eine dicke Strickjacke, um den Kopf ein buntes Tuch.
„Behandelt sie gut,“ sagte der große Mann, „sie ist Afrikanerin wie ihr.“
Er ging zu der kleinen Holzhütte, die in dem spärlichen Wäldchen hinter den Dünen versteckt war, um zu schlafen.
Die Männer schwiegen, tranken Bier, holten etwas zu essen aus ihren Jackentaschen.
Einer stieß Dala an, hielt ihr eine Dose Bier hin: „Schwester, trink, das wird dir gut tun.“
Dala sah ihn kurz an, schaute ins Feuer und ließ den Kopf auf die Brust sinken.
„Lass sie. Sie ist müde.“
Einer der Männer stand auf, berührte sie leicht an der Schulter.
Sie hob den Kopf, er winkte ihr, ihm zu folgen
„Geh mit ihm,“ sagte der älteste der Männer und lächelte, „hab keine Angst. Er wird dir zeigen, wo du schlafen kannst.“
Dala stand langsam auf, die Schritte auf dem weichen Sand fielen ihr schwer.
Der Mann, dem sie folgte, war zu einem Bretterverschlag gegangen, winkte ihr noch einmal, sie nickte, fast wäre sie gestolpert.
Der Mann kam auf sie zu, nahm sie sanft bei der Hand und führte sie zu dem niedrigen Schuppen.
Er sagte etwas, doch Dala sah ihn nur verständnislos an.
Er lächelte, legte seinen Kopf auf den Rücken seiner zusammengelegten Hände und schnarchte.
Dala verstand und kroch auf allen Vieren in den dunklen Verschlag.
Der Mann beugte sich zu ihr herab, holte eine zusammengerollte dicke Wolldecke aus einer Ecke.
Dala streckte die Beine aus und der Mann deckte sie zu.
Dann schlief sie ein.

Die See war ruhig und glatt, die Sonne brannte heiß auf den rissigen Planken des Bootes.
Dala saß mit den Männern unter einer milchigen Plane und trank von dem Bier, das ihr die Männer gaben.
Der Außenbordmotor tuckerte laut.
Einige Männer klatschten im Takt dazu, bis die über ihnen stehende Mittagssonne und das Bier alle schläfrig machte.
Dala dachte an das große Schiff, das auf der Postkarte abgebildet war, die ihr Josef geschickt hatte.
Sie holte verstohlen die Karte aus ihrem Kleid hervor und las immer wieder den letzten Satz: „Komm zu mir, Dala.“
Einige Männer schauten zu ihr herüber, schienen zu ahnen, was auf der Karte geschrieben stand und lächelten sie an.
„Schwester Dala,“ sagten ihre Blicke, „solch eine Karte werden auch unsere Frauen bekommen, wenn wir es geschafft haben.“
Dala drehte die Karte um; das abgebildete Schiff war hoch, so hoch wie der große Berg in ihrer Heimat; auf dem Deck konnte sie Menschen erkennen, weiße Menschen in schönen Kleidern, die über das ruhige Meer fuhren.
Dasselbe Meer vielleicht, auf dem Dala jetzt in diesem kleinen Boot saß und an Josef dachte, der es geschafft hatte und sich nach ihr sehnte.
„Liebste Dala, hier habe ich zu essen und zu trinken, denn ich habe Arbeit. Die Arbeit ist hart. Doch ich habe ein Dach über dem Kopf, wir leben zu acht in einem Raum und es gibt oft Streit. Aber ich streite mich nicht, denn ich trinke kein Bier, sondern denke immerzu an dich. Komm zu mir, Dala.“
Dala steckte die Karte wieder ins Kleid, die meisten Männer waren eingeschlafen.
Der große Mann saß mit geradem Rücken am Heck und steuerte das tief liegende Boot über die See.
Er sagte kein Wort, schaute immer wieder auf eine Karte, dann auf ein kleines Gerät in seiner Hand und rauchte eine Zigarette nach der anderen.
Ihm hatte Dala zweihundert Pfund von den fünfhundert, die ihr Josef geschickt hatte, gegeben.
Dafür brachte er sie nun mit seinem Boot zu der Küste, an der Josef auf sie wartete.
Dala schloss müde die Augen und sah Josef, der auf weißem Sand stand, hinter sich die große Stadt, in der er nun lebte.
Josef war schön; er trug einen weißen Anzug, sein Haar war frisch geschnitten und als er sie anlächelte, blitzten seine Zähne.
Dann kam er lachend mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.

“Ciao, Giuseppe,“ sagte der hagere Polizist zu dem jungen Commissario, der in seinem hellen Anzug eher wie ein Tourist aussah.
„Keine Papiere, aber wir haben diese Postkarte und hundert britische Pfund in ihrem Kleid gefunden.“
Der Commissario drehte die aufgeweichte Karte in seinen Händen, die Schrift war verwischt, nur das Wort >Dala< war noch schwach zu entziffern.
„Dala also,“ dachte der Commissario und betrachtete die Tote in einem der Zinksärge, die in einer Reihe am steinigen Strand standen.
Er knöpfte die nasse Strickjacke über ihrer Brust zu und schob die Postkarte und die einhundert britischen Pfund darunter.
„Diesen Sarg könnt ihr schließen,“ sagte er zu den beiden Beamten in Uniform, die ihm gelangweilt zugesehen hatten.
Er ging auf die kleine Stadt zu, die hinter der hohen Mauer lag; seine Frau wartete schon mit dem Abendessen auf ihn.

© 2004 Jon H.

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