Kurzgeschichten - Miniaturen - Gedichte - Fragmente - copyright Jon
Jegliche geheuchelte Freude wich aus den verstummten Politmumien, die sich um die aufblasbare Kanzlerinnenattrappe scharten, als Harry Muaner den Tanzsaal betrat, die Parteisekretärin der A.narchisten U.nion A.llgäus zu sich heranzog und sie mit leichtem Hüftschwung über sein Tangoknie bog, bis ihr straff nach hinten gesträhntes pferdemähnenstarkes, strohduftendes Blondhaar mit sanftem Peitschenklang über den frisch gebohnert- und gewachsten Parkettboden strich, dem Rhythmus ergeben im Einklang mit sich und dem weiten Kosmos, dessen balkenbewehrter überdachter Horizont zwar den freien Blick verwehrte, aber das Gefühl tiefer Lebenslust derart auf den Mittelpunkt ihres Seins fokussierte, dem sie sich nur allzu gern hingab, in diesem Moment vollkommen geistigen Vakuums, welches seit langem schon jede phantasievolle Weiterentwicklung dieser, in sich geschlossen wirkenden, aber auch der, von diesen dekadenten Vergnügungen der selbsternannten Elite ausgeschlossenen, Gesellschaft sinnentleert beherrscht hatte, wirbelte sie nun, derwischgleich um sich selbst, eine eigene Achse wie ihr schien, die sie bislang stets gesucht, aber erst in Harry Muaners Armen gefunden hatte, der sie von sich zu befreien schien, um sie gleich darauf wieder an sich zurückzugeben, mit einem neuen Begriff von sich, einer Vorstellung, die sie vorher nicht von sich gehabt hatte, als sie sich bei jeder weiteren Drehung an ihn geschmiegt, von ihm geworfen, sich in dem wandhohen Spiegel vorübergleiten sah, verwischt und unklar in der kreisenden Bewegung zweier Körper im Raum, in all ihrer ursprünglichen Reinheit eins und erlöst von dieser solitären Getrenntheit, die wir in der Liebe zu überwinden meinen, um dann umso schmerzhafter nach dem ersten Rausch zu erkennen, wie sehr wir uns auch darin irrten, wenn wir unsere Sehnsucht im anderen gespiegelt glaubten, so lange dieser Tanz uns glücklich täuschte.
Noch nicht einmal sechs Jahre alt, hatte er sich in sie verliebt, in dieses Mädchen mit den rabenschwarzen Haaren, als sie auf dem Schotterhaufen vor einer kleinen Fabrik knieend spielten, war sie aufgestanden und er hatte auf ihr Haar geschaut, das nun von der hinter dem Dach der Fabrik versinkenden Sonne mit strahlend hellem Glanz beschienen, sich für immer bläulich tief in seine Seele brannte, mit dem Gefühl aller Verliebtheit, bei dem man meint jeglichen Halt in sich zu verlieren und sich wünscht, mit diesem himmlisch scheinenden, doch fremden Wesen eins zu sein, nicht nur für diesen Augenblick, sondern für jede noch so unbekannte Zukunft, und, so hofft er, ohne es zu wissen, sie mit erlöstem Lachen dazu bewegen zu können, in ihm ebenso das wiedergefundene Bild von sich selbst erkennen zu können, in dem sie sich spiegeln könnte beim Blick in seine klaren Kinderaugen, den sie ihm über die Schulter zuwirft.
Doch sie war nicht wie er, verliebt und lachend, sondern ein Mädchen mit dem er gespielt hatte und das ihm zwar, die kleine Hand leicht anhebend, zuwinkte, als sie sich vor seiner Haustür verabschiedeten, doch sich nicht mehr zu ihm umdrehte, während sie die Straße hinunterging und er ihr so lange nachsah, bis ihr rabenschwarzer Kopf nicht mehr zu erkennen war.
In seinen Träumen blieb von ihr dieses schwache Zeichen ihrer winkenden Hand, ihr blauschwarzglänzendes langes Mädchenhaar und dieser eine Blick, der ihn so sehr bewegte.
Als sie viele Jahre später aus einer Laune heraus seine Freundin geworden war, küsste sie ihn so kalt und von vielen Liebeleien abgeklärt, als sei sie ein dazu geschaffener Automat aus Fleisch und Blut und er erkannte, dass er sich selbst in ihr gesehen hatte mit seiner Liebe für sie, sie selbst jedoch ein ganz anderer Mensch war als das Bild, das er sich von ihr entworfen hatte.
So fühlte er sich eher befreit als bedrückt, als sie sich nach kurzer Zeit trennten. © Jon Freitag, 19. August 2005
Seit einer halben Stunde stand sie nun vor dem Spiegel, der hoch und klar in ihrer kleinen Wohnung unter dem Dach an der Wand lehnte, in ihrer Wohnung, diesem stillen Kokon, den sie um sich gesponnen hatte, Stück für Stück ihres Lebens hatte sie sich hier eingerichtet und alles fortgeschafft, was ihr nutzlos geworden war und Erinnerungen hätte wachrufen können, diese schmerzhaften Erinnerungen an ihr bisheriges Leben, das sie nicht mehr sehen wollte, nicht in ihrem Kokon, nicht in ihrem Spiegelbild.
"Form follows function" war ihr zum Credo geworden, ihr Bekenntnis einer klarsichtigen Zukunft, das sie verinnerlicht hatte, ihrem Leben endlich Ziel und Richtung zu geben.
Sie spitzte ihren vollen Mund zu einem schweigenden Kuss, den sie ihrem Abbild gab und warf sich einen Blick ihrer übergroßen Augen zu.
So lange sie nur ihre Fassade wahrnahmen, hinter der sie sich zu verbergen und zu schützen wusste, war sie zufrieden mit sich, wenn die Männer wie steuerlose Boote über ihnen unbekannte Tiefen irrten, auf den Riffen ihrer eigenen bemühten Eitelkeiten zerschellten.
So spann sie nun diesen Kokon um sich, lächelte befriedigt über sich selbst, denn mehr als ihr Bild war sie nun nicht mehr, als sie leichten Schrittes ihre Wohnung verließ, sich in den Hüften wiegend.
© Jon 27.10.2005