Weltoffene Demokratie
VON JULIAN NIDA-RÜMELIN
Schon kurz nach seiner Wahl hat der neue Bundestagspräsident Norbert Lammert zu einer neuen Diskussion um Leitkultur aufgerufen, die seither hohe Wellen schlägt. In der Tat, der Begriff "Leitkultur" ist riskant. Ursprünglich als "europäische Leitkultur" schon vor Jahren von dem an der Universität Göttingen lehrenden muslimischen Politikwissenschaftler Bassam Tibi eingeführt, um die Notwendigkeit eines an den Werten des europäischen Humanismus und der Aufklärung orientierten Islam zu begründen, wurde er rasch von rechts deutschtümelnd instrumentalisiert: Die Immigranten sollten sich an die deutsche Lebensform anpassen, oder wie Edmund Stoiber in seiner diesjährigen Aschermittwochsrede emphatisch ausrief: "Bayern ist nicht Botswana!"
Sofern eine solche Anpassung ohne entsprechende Differenzierung gefordert wird, liefe "Leitkultur" auf "Assimilation" hinaus. Wir würden es jedoch entrüstet ablehnen, wenn deutsche Ingenieure in Shanghai, die gegenwärtig dort in großer Zahl arbeiten, von chinesischer Seite aufgefordert würden, sich in ihrer Lebensart der chinesischen Mehrheitskultur zu assimilieren. Wir halten es geradezu für ein Grundrecht des deutschen Ingenieurs in Shanghai, dass er kulturell Deutscher bleiben darf, zu Hause und mit Freunden seine deutsche Sprache sprechen, deutsche Essgewohnheiten und Kleidungssitten beibehalten und deutsche Umgangsformen pflegen kann. Was wir für uns im Ausland in Anspruch nehmen, das sollten wir auch Ausländern in unserem Land zubilligen...
Quelle:
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?cnt=901661